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Heiligabendmorgen, der massive Regen, der hernieder geht, tut das schon seit über einer Woche. Eher quer, statt senkrecht, massieren die Wassertropfen, spitzen Pfeilen gleich, alles, was dem ungeschützt ausgesetzt ist. Bäume, Straßen, Häuser, Haut. Die Bäche und Flüsse steigen an, neblig-trüb sind die Tage, die Straßenlampen scheinen gar nicht mehr auszugehen. Sie sehen fast so aus, als hätten sie sich etwas nach unten gebeugt, damit wir Menschen besser sehen können, wo Hindernisse sind, und dunkle Wege enden. Heiligabendmorgen ist eine Nirgendszeit. Stunden, die fast überflüssig erscheinen, denn heute geht es um den Abend, auf den alle warten. Früher haben wir an Heiligabendmorgen in den Wäldern Bäche per Dämme angestaut. Und wenn ein See draus entstand, wurden die Dämme eingerissen, der Flut nachgeschaut, und dann sind wir heimgegangen.
Heiligabendmorgen, ich habe mich heute vor die Tür geschupst, gehe die vertraute Strecke durch die Gassen, die mich in die Innenstadt führen. Abgesehen vom Heiligabend, ist heute auch Sonntag. Wenige Leute sind unterwegs. Meistens werden ja am 24. noch die letzten Geschenke gekauft, oder die ersten schon wieder umgetauscht. Davon ist heute nichts zu sehen. High Noon in Waterworld, die Straßen sind leergefegt, Wasser steht in großen und ganz großen Pfützen überall. Fahl sind die Spiegelungen, es fehlt ihnen an Konturen, und das Licht fehlt auch. Die Sonne hat sich scheinbar geschworen, vor April nicht mehr zu leuchten. Sturmgepeitschte Zeit, ich sehe einen alten Mann, der den Riegel seines Fensterladens tiefer in die Arretierung drückt. Okay, geschlossene Fensterläden laden aus, die Städter scheinen sich regenfester an- oder einfach zurückzuziehen.
Recht spät ist es gestern geworden, schön war der Abend, und gut hat es getan. Auch das mit ein paar Gläsern des Guten zu viel. Nicht total zu viel, aber viel genug. Die Mischung aus etwas zu viel davon, und hinzu kommend etwas zu wenig Schlaf, ist nun noch nicht ganz fertig mit mir. Und während ich derart unterwegs bin, kommt mir plötzlich ein alter Song bruchstückhaft in die Sinne.
Well,
I woke up Sunday morning
With no way to hold my head that didn′t hurt
And the beer I had for breakfast wasn't bad
So I had one more for dessert
Then
I crossed the empty street
And caught the Sunday smell of someone fryin′ chicken
And it took me back to somethin'
That I′d lost somehow, somewhere along the way
On
the Sunday morning sidewalk
Wishing, Lord, that I was stoned
'Cause there′s something in a Sunday
Makes a body feel alone
There ain't nothin′ short of dyin'
Half as lonesome as the sound
On the sleepin' city sidewalks
Sunday mornin′ comin′ down
"sunday morning coming down" (1970), Kris Kristofferson
Heiligabendmorgen, zwei Leute treten aus dem Kirchenportal in die windgepeitschte Luft. Recht früh, denke ich, und ausgerechnet jetzt Kirche. Ebenso kommt mir die Frage auf, ob es für heute noch mehr werden dort. Die Überlegung, was es hinter den Portalen gibt, dass ich nicht auch draußen finde, kriege ich nicht zu Ende gedacht. Jeder sucht halt woanders, und Hauptsache, jeder findet seins.
Dann etwas später am Hauptbahnhof, dort, wo normalerweise der Puls der Stadt sichtbar ist, sind heute auch nur Einzelgänger unterwegs. Die kurze Verwunderung
darüber schlägt dann um in die Erkenntnis, ja gerade selber so einer zu sein. Ein Typ mit Schirm geistert in die Unterführung. Dass er den dort unten nicht braucht, ist ihm scheinbar entgangen.
Heiligabendmorgen, ein Tagträumer Treppe abwärts. Ich zähle seine hallenden Schritte auf den Stufen. Zwölf, dreizehn, vierzehn, dann ist es still.
Heiligabendmorgen, kalter, billiger, ungemütlicher Flanierbeton im typischen Stil Siegens, die großen Stufen am Fluss, einzige Plätze zum sommerlichen Sonnenbaden und Picknick, sind wegen Hochwasser durchgängig abgesperrt. Für ein Handy-Selfie hat sich ein Pärchen mutig durchgemogelt, wahrscheinlich landet das Foto vom HotSpot-Shooting auf Insta & Co, um nach Sekunden in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Durch den Bahnhof hindurch gehend, zeigt sich ein nahezu leerer Bahnsteig. Er bedient die Stimmung, die in der ganzen Stadt herrscht. Leere überall, ich stehe alleine dort, erwische noch eben den letzten ausfahrenden Zug. Nicht als Fahrgast, aber als Fotograf. Heiligabendmorgen im Zug, nach Weihnachten sieht das dort im Abteil nicht unbedingt aus. Doch wie schaut es denn typischer Weise aus, in einem Regionalzugabteil am Heiligabendmorgen?
Ich gehe durch die Baustelle
zurück zum Bahnhofsvorplatz, und dort dringt
unerwartet der erste weihnachtliche Ton an mein Ohr.
Ich folge den schwermütigen Klängen,
und finde einen Akkordeonspieler,
der mutterseelenalleine in der Fußgängerzone sitzt.
Oh-Tannenbaum ist das Einzige, was ich erkenne.
Es folgt Musik, die ich in Russland verorten würde. Vielleicht auch aus der Ukraine. Es ist unwichtig.
Hier sitzt jemand, und spielt für mich sein
Weltmeister Akkordeon. Das ist wichtig.
Ich lausche eine Weile, der Mann wirkt freundlich, aber auch sehr in sich gekehrt. Eine Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch gibt er erkennbar keine, denn er spielt einfach immer weiter. Einzig meine Zeichensprache,
ob ich ihn fotografieren darf, erwidert er zustimmend
mit einem ganz kleinen Nicken. Mehr als das bekomme ich auch nicht, als ich später ein paar Münzen zu denen lege, die er schon von Anderen erhalten hat.
Heiligabendmorgen, in den Restaurants,
Cafés und Bars sind die Stühle hochgestellt.
So, als wäre hier nichts mehr zu erwarten.
Eine ewige Stille liegt in den Räumen,
die ich durch die Fensterscheiben hindurch fühlen kann.
Die großen Straßen umgehend,
lasse ich mich kreuz und quer, zick und zack,
durch die Nebenstraßen und Gassen treiben.
Die Stadt ist eingepackt, daran hat sich auch
in den letzten 2 Stunden nichts geändert.
Ich schaue in Straßen, die sich förmlich
den Schal bis zur Nase hochgezogen haben.
Nichts wirkt einladend oder offen.
Wahrscheinlich bin ich sogar ein Teil dessen.
In Gedanken versunken, und hinter den Sucher
meiner Kamera getaucht, lockt mich
heute wenig aus der Reserve.
Heiligabendmorgen, nicht zu fassen, ein fast schon weihnachtlicher Moment zu so früher Stunde! In einem kleinen Zwischenweg, den ich kaum je gegangen zu sein scheine, lukt das markante Gesicht eines Oldtimers hervor. Irgendwie passend, auch dieses ikonische Antliz ist nicht offen und frei. Halb zugestellt, fast schon versteckt, wirkt der noble Wagen zumindest missachtet, vergessen und abgestellt. Mir fallen sie direkt auf, die übereinander liegenden Doppelscheinwerfer, statt der sonst einteiligen, aufrechten "Kirchenfenster". Am dicken Ende stehe ich hier vor einem der legendären 6.3er. Wer weiß, der weiß. Der Gedanke verliert sich, es ist nicht wichtig gerade.
"Ach, da bist du ja", scheint der verborgene Sternenträger mir erleichtert zuzuraunen, und ich denke ähnlich. Ach, da bin ich ja. Am Heiligabendmorgen in einer verwaisten, vom Nebelregengrau sedierten Stadt, durchzogen von den fast schon melancholisch-traurigen Gassen, durch welche wir Wartenden schlendern.
Heiligabendmorgen, keine Schneeflöckchen, kein Weißröckchen, und in den Fenstern noch längst keine warmen Lichter. Da sind die trüben Gassen mit dem grauen Regen, da ist jene schwermütige Musik, und ein vergessenes Kleinod auf 4 Rädern. Und da bin ich. Nass patschen die eigenen Schritte. Auf der endlosen, geraden Hauptstraße zurück, gehe ich heimwärts unter der alten Eisenbahnbrücke entlang. Und da ist immer noch jenes alte Lied in meinem Kopf...
...then I headed back for home, and somewhere far away a lonesome bell was ringin′.
And it echoed through the canyons, like the disappearing dreams of yesterday...
Denkt nicht mal dran, ich bekomme da nix für...
Wer Spass daran bekommen hat, einen weiteren philosophisch angehauchten Artikel zu lesen,
der davon handeln, bei Wind und Wetter mit Kamera draußen zu sein,
und einen guten Tropfen nicht zu verschmähen, dem empfehle ich von Herzen den Artikel
von Peter Roskothen, zu finden auf www.fotowissen.eu. Er trägt den Titel:
"Foto-Spaziergang durch die niederrheinische Triefebene".
Richtig gelesen-Triefebene! Sehr empfehlenswert...
2023 © DT-Classics
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Ben (Montag, 25 Dezember 2023 12:45)
Sehr schön geschrieben lieber Dirk.
Dir und deinen liebsten ein paar schöne,ruhige Tage !
Beste Grüße Ben
Dirk von DT-Classics (Montag, 25 Dezember 2023 13:15)
Hi Ben,
das ist ja mal weihnachtlich, schön dich zu lesen!
Hoffe, dein/euer Weihnachten möge friedvoll und gemütlich sein,
und ich sag´mal: Auf ein Wiedersehen bei Sonne und Wärme... ;-)
Herzlich, Dirk
Peter (Montag, 25 Dezember 2023 13:36)
Logischer Weise ist es bei Dir die Straßenfotografie, wiederum wunderbar eingefangen. Ich habe mich auch herausgeschubst und bei dem Wetter an der Niers fotografiert. Warm wurde mir beim Rotwein :-). Hier zu lesen:
https://www.fotowissen.eu/foto-spaziergang-durch-die-niederrheinische-triefebene/
Michael Guggolz (Montag, 25 Dezember 2023 16:43)
Grüß dich Dirk,
mit deinen street Fotos bekomme ich Einblicke in eine Welt, die mir ziemlich fremd ist. Ich meide Städte wenn immer möglich. Zu viele Menschen, zu viele schnelle Eindrücke vielleicht…. jedenfalls zu schnell für mich und meine Kamera. Und ganz besonders meide ich regennasse Städte mit den feuchten und windigen Straßenzügen, die deinem geschulten Auge immer wieder tolle Motive bieten, die ich erst auf deinen Fotos erkenne. Wie der Mann mit Schirm in der Unterführung verschwindet, ist einfach klasse.
Tolle Fotos, toller Text.
Liebe Grüße,
Michael
Dirk von DT-Classics (Montag, 25 Dezember 2023 17:08)
Lieber Peter,
es ist verwunderlich, und irgendwie auch doch nicht, dass wir beide völlig unabhängig voneinander den Unbilden trotzen, und jeder auf seine Weise, mit seiner Sicht, per Kamera rausgeht. Genau das ist Fotografie, danke dir sehr!
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Hallo Michael,
na, das freut mich aber, coole Sache, danke für deinen Kommentar!
Ich kann deine Beschreibung super nachfühlen. Städte bei Regen, in Tristesse und Anonymität, habe ich lange jahre gemieden, wie der Teufel das Weihwasser. Doch das hat sich stark verändert. Nach wie vor ist die Natur mein großes Refugium, die großen und kleinen Reisen lassen nahezu vollständig größere Städte aus. Doch mit dem Interesse an den Menschen, und den kleinen Micro-Stories, die sekündlich geschehen, hat sich mein Einfinden in urbanen Lebensräumen stark gewandelt. Ich liebe es, durch die Straßen zu flanieren, spüre die Kamera am Rücken oder in der Hand, und sehe völlig anders in eine Welt, die ich zu kennen glaubte. Street Photography ist eine Offenbarung.
Beste Grüße, Dirk
Inez Wolf (Dienstag, 26 Dezember 2023 10:52)
Hi Dirk,
Super Dein Artikel und bewegend möchte am liebsten gleich aus meinem Krankenbett hopsen und auf einen Fotowalk gehen , leider geht das noch nicht wieder so richtig gut , mal sehen was das kommende Jahr besseres uns allen bringt. Dir noch eine schöne nach Weihnachtszeit.
���️�
Dirk von DT-Classics (Dienstag, 26 Dezember 2023 11:14)
Liebe Inez,
was immer auch 2024 bringen mag, Dir möge es rundum
Gesundheit und Glück schenken, das wünsche ich dir sehr!
Mir und meinem Tun + Schaffen deine regelmäßige Aufmerksamkeit zu schenken,
weiß ich sehr zu schätzen, fühl´ dich einfach mal gedrückt... ;-)
Herzlichst, Dirk
Bernd (Dienstag, 26 Dezember 2023 14:10)
Großartig geschriebener Text und ein Blogartikel, den man genüsslich und in Ruhe sich mehrmals zu Gemüte führen kann. Als Leser kann man sich gut in die Stimmung dieses Tages hineinversetzen.
Dirk von DT-Classics (Dienstag, 26 Dezember 2023 15:04)
Hallo Bernd,
wirklich eine schöne Vorstellung, dass ein Artikel mehrmals gelesen wird, freundlichen Dank dafür!
Graf (Montag, 15 Januar 2024 05:25)
Wer in der Stadt lebt und sonntags recht früh durch die Straßen geht, sieht das wahre Gesicht. Ziemlich treffend eingefangen, und eindrücklich geschrieben, danke dafür!
Dirk von DT-Classics (Dienstag, 30 Januar 2024 18:42)
Vielen Dank, so Kommentare freuen mich doch sehr ;-)